Düstere Prognosen
Nein, zur Hoffnung geben die Zahlen in der Landeskirche keinen Anlass. Jährlich verlieren wir Gemeindeglieder, die von der Zahl her ein ganzes Dekanat ausmachen. Bis 2060, so sagt es ein von der Kirche beauftragter Forscher aus Freiburg, wird die Landeskirche nur noch die Hälfte der Mitglieder von heute haben. Kurz und trocken: Von 2006 bis 2024 verringert sich die Zahl der Gemeindeglieder von ca. 2,2 Millionen auf 1,8 Millionen. 2060 werden es dann vermutlich, mit statistischer Wahrscheinlichkeit noch 900.000 Gemeindeglieder sein. So sieht das aus wie eine Schreibtischsache, wie eine Excel-Tabelle eines Amtes.
Unterschiedliche Reaktionen
Menschen reagieren ganz unterschiedlich auf diese zunächst nüchterne Excel-Tabellen-Statistik. Es gibt unterschiedliche Reaktionsmuster. Bei vielen ist zunächst Frust zu spüren – bei Gemeindegliedern, bei ehrenamtlich Aktiven und auch bei denen, die den Pfarrberuf ergriffen haben: „Das ist nicht die Kirche, die wir kennen!“ Oder: „Es ist so viel verloren gegangen, was ich sehr geschätzt habe.“ Oder: „Ich weiß nicht, ob diese Kirche noch mein Zuhause ist.“ Oder: „Dafür haben wir uns nicht ausbilden lassen.“ Ich traue mich, zu verallgemeinern und behaupte: Allen in unserer Gemeinde fällt die aktuelle Situation schwer. Sie bedrückt; wir wissen nicht genau, wie es weitergehen wird.
Dann kehren sich manche Menschen von der Kirche (als Institution) ab. Als Kirchen-gemeinderat spüren wir das, wenn am Ende einer Sitzung Austritte verlesen werden. Das hören wir als Gemeindeleitung auch manchmal in Gesprächen oder Kommentaren. Ich schreibe das nicht vorwurfsvoll – das ist zunächst einfach eine Beobachtung.
Eine andere Reaktion, die wir wahrnehmen, ist, dass Menschen versuchen, die „guten alten Zeiten“ aufrecht zu erhalten und wenn die Kraft dafür nicht mehr genügt, dann werden sie auf alle Fälle in der Erinnerung hochgehalten.
Bei anderen sehe ich ab einem bestimmten Punkt Gleichgültigkeit. Die Gemeinde vor Ort war einst eine wichtige geistliche und soziale Größe im persönlichen Leben; jetzt aber scheint sie verwaist und leer geworden. Aber was soll’s – ich suche mir etwas anderes.
Vuca – ein neues Wort für das Gefühl unserer Zeit
Wieder andere haben guten Rat – scheinbar einfache Lösungen. Und ich verstehe das nur zu gut, diese Sehnsucht nach Vereinfachung und Klarheit – wenn es doch übersichtlicher, durchschaubarer, klarer und einfacher wäre… Schon mal was von vuca gehört? Das Wort leitet sich von den englischen Begriffen Volatility (Flüchtigkeit), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit) ab. Mit diesem Kunstwort bezeichnen Forscher unsere Zeit und versuchen Antworten darauf zu finden, wie man in dieser Situation handeln kann. Sie werden es schon erraten haben: Die Forscher können auch nichts Genaues sagen, außer, dass die alten Antworten nicht mehr so recht passen, und dass es überhaupt sehr viele Möglichkeiten gibt, etwas zu unternehmen.
Auch wenn es unangenehm ist; das Kunstwort vuca bezeichnet ganz gut, wie es gerade in unserer Welt bis hinein ins Lenninger Tal und auf die Alb hinauf zugeht: flüchtig, unsicher, komplex, mehrdeutig.
Gott führt keine Statistik
So sehen ganz menschliche Reaktionen auf die aktuellen Entwicklungen aus. Aber nehmen wir einmal einen Perspektivwechsel vor und fragen, wie die aktuelle Lage aus biblischer Perspektive gedeutet werden könnte. Grundsätzlich würde ich erst einmal sagen: Gott macht sich nicht viel aus Zahlen. Gott ist die Liebe, so lesen wir es in
1. Johannes 4. Und die Liebe hat ein Wesen, in dem zwei Dinge sicher nicht vorkommen: Furcht und Berechnung. Vielmehr ist die Liebe aus Gott voller Hingabe, voller Sehnsucht für den Menschen, voller Güte und anderer wunderbarer Eigenschaften. Damit sucht und schafft Gott Beziehungen. Er sucht einzelne Menschen. Und ich glaube nicht, dass er Statistiken führt. Ich glaube auch nicht, dass er uns eines Tages hinter einem Schreibtisch empfängt und einen Aktenordner herauszieht. Die Bibel zeigt uns ein ganz anderes Bild von Gott: Er ist ein barmherziger Vater (Lukas 15). Und an dem, wie Jesus ist, erkennen wir ganz viel vom Wesen Gottes: „Wer mich sieht, sieht den Vater.“, sagt Jesus nach dem Johannesevangelium. Mit dem, was er tut, weist er darauf hin, wie Gott ist: Gott ist ein Gott, der gerne feiert; deshalb sorgt Jesus für Wein auf einem Hochzeitsfest. Gott ist ein Gott, der sich um seine Menschen sorgt; deshalb heilt Jesus Kranke und belebt Tote wieder.
Wird Gottes Wesen bei uns sichtbar?
Wir sollten uns fragen: Ist dieses Wesen Jesu in unserer Landeskirche und unserer Gemeinde erkennbar? Lebt, denkt, fühlt und handelt sie noch nach diesem Gott? Ja, strukturelle Anpassungen sind im Moment nötig, das sehe ich ein. Aber! Aber doch nur relativiert, ja auf den Platz verwiesen, von diesem Gott der Liebe. Das ist mein grundsätzlich theologischer Standpunkt in dieser Sache.
Müssen wir umdenken?
Darüber hinaus bietet die Bibel noch andere Deutungen unserer aktuellen Lage an. Ich denke da an die Propheten des Alten Testaments. Sie sahen, dass das Wesen Gottes und das Leben der Israeliten nicht zusammenpassten. Elia zum Beispiel kritisierte seinen König und dessen Frau scharf, weil sie nicht auf Gott vertrauten, sondern sich Reichtum durch den Fruchtbarkeitsgott Baal erhofften. Wie weit weg ist dieser Baal, der sinnigerweise von einem Stier verkörpert wurde, von unserer kapitalistischen Grundeinstellung? Sollten wir uns von den Propheten vielleicht die Fragen stellen lassen: „Wo können wir nicht weitermachen wie bisher? Wo braucht es tatsächlich ein neues Denken, ein Umdenken, Veränderung – eben Buße?“
Brauchen wir eine Zeit der Klärung?
Ein weiteres Thema der Bibel ist das der Wüste. Die Wüste ist ein öder, lebensfeindlicher Ort. Israel musste zweimal 40 Jahre hindurch, David war in der Wüste und viele andere bis hin zu Jesus selbst. Die Wüste ist in der Bibel ein Ort der Klärung und der Sinnenschärfung. Vor allem aber ein Ort, an dem jemand lernt, auf Gott zu hören. Wäre das eine Deutung? Dass wir durchhalten, aufmerksam werden, die große, weite und hitzige wie kalte Landschaft in Gottes Tempo durchwandern? Auch das wäre eine Deutungsmöglichkeit.
Was ist uns verheißen?
Wenn von der Kritik der Propheten und der Wüste die Rede ist, dann muss aber auch von einem anderen Motiv die Rede sein. Sowohl die Propheten in ihrem Eifer als auch das Volk oder einzelne Personen in der Wüste wurden gelockt und getragen von einer Verheißung: Ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Diese Verheißung hat sie motiviert, hat ihnen geholfen, sich aufzuraffen und den unbekannten und steinigen Weg zu gehen. Könnte das etwas sein? Dass wir uns nach der Verheißung richten und uns auf den Weg machen?
Sie bemerken als Leserin und Leser: Eine einfache Antwort auf vuca habe ich nicht. Es wird wohl auch keine einfache Antwort geben. Wenn, dann wird es eine Richtung geben, in der wir uns bewegen und weiter auf dem Weg sind.
Gemeinsam suchen
Als neuer Kirchengemeinderat wollen wir uns diese Richtung zeigen lassen und uns auf die Suche nach Gottes Verheißungen machen. Wir wollen ihn bitten, uns ein Bild von der Zukunft zu schenken, das uns als Gemeinde Richtung gibt. Eine Vision, die uns hilft, zu entscheiden, was zu tun ist und was zu lassen ist, wo wir Zeit und Geld investieren und wo nicht. Dafür wollen wir auf doppelte Weise hören: Auf die Menschen in unserer Gemeinde und in unserem Ort und auf Gott selbst und sein Wort. Von dem her, was wir in diesem Prozess hören, wollen wir unsere Arbeit in der Gemeinde und für die Menschen gestalten.
Wir laden Sie ein, diesen Prozess mit uns zu gehen! Wir laden Sie ein, Gott zu fragen: Wo muss sich unsere Perspektive und unser Herz verändern? Wo schlägt Dein Herz für Deine Kirche? Und wie können wir dem am besten in unserer Gemeinde Ausdruck verleihen?
Wenn sich dann Dinge verändern werden, dann kommen sie, so hoffen wir, aus Gottes Verheißung und Kraft, denn die Osterbotschaft, das Evangelium, ist „eine Kraft Gottes“ (Römer 1). Aus dieser Kraft heraus können wir darauf vertrauen: Kirche hat Zukunft!
Pfarrer Christoph Schubert
Übrigens
Ganz am Anfang, da war es WÜST und LEER. Die Hebräer nennen das TOHUWABOHU.
Die Griechen nennen das CHAOS. Wir heute vielleicht VUCA.Gott ist derjenige, der Ordnung ins Tohuwabohu bringt. Und Jesus wird im Johannesevangelium als Logos bezeichnet – das Wort oder die Logik, mit der Gott Ordnung schafft.